Kalter Fußboden und grenzenlose Solidarität

Vom Durchhalten für die Klimagerechtigkeit bei der Aktion Limity jsme my im Juni 2018

von Robin Herbst

Warum mache ich das hier eigentlich?
Es ist 2 Uhr nachts, als mir dieser Gedanke durch den Kopf kreist, in lähmender Dauerschleife. Ich liege auf dem Fußboden in einer Polizei-Station in Ústí, Tschechien. Das Licht brennt aus Neon-Röhren auf mich herab. Als Kopfkissen habe ich meinen dreckigen Rucksack, zum Zudecken nur eine dieser Decken aus goldener und silberner Folie, die Rettungsdecken heißen, aber gerade nichts retten. Ich bin völlig übermüdet, aber an Schlaf ist nicht zu denken.
Warum?

Ich möchte sie wecken, die Menschen, die um mich herum schlafen oder es versuchen, wie ich, viele kenne ich, einige sehe ich hier zum ersten Mal, ich möchte sie berühren, ihnen in die Augen schauen und eine Antwort bekommen, die mir wieder Mut macht.

Heute Morgen sind wir voller Euphorie bei strahlendem Sonnenschein aus dem Camp losgezogen, in Richtung des Braunkohle-Tagebaus Bilina in Nordböhmen. Dörfer und Landschaften werden dort zerstört, um die Braunkohle aus dem Boden zu holen, die dann in nahegelegenen Kraftwerken vom Energiekonzern ČEZ verfeuert wird. Genauso, wie es deutsche Firmen im Rheinland, in der Lausitz und im Braunkohle-Revier bei Leipzig machen. Tschechien gehört zusammen mit Deutschland und Polen den „Kohle-Ländern“ in Europa. Diese Kohleverstromung produziert globale Ungerechtigkeiten: Die Treibhausgase, die dabei ausgestoßen werden, heizen die Klimakrise an, die jetzt schon die Lebensgrundlagen von Menschen im globalen Süden zerstört. Dagegen wollten wir uns stellen. Gemeinsam wollten wir die riesigen Bagger zum Stillstand bringen, indem wir den Tagebau betreten. Uns mit unseren Körpern schützend vor die Kohle stellen, die verdammt noch mal im Boden bleiben muss. Natürlich wollte ich dabei sein!

„No border, no nation, no coal power station“, haben wir gerufen, hundertfach. Aktivist*innen von der Gruppe Limity jsme my (Wir sind die Grenze) aus Tschechien hatten die Aktion geplant. Ihre Forderung: die dreckigen Kohle-Kraftwerke in Tschechien sofort abschalten und die Energiewende anpacken. Sie hatten uns aus Deutschland eingeladen teilzunehmen, als Zeichen der Solidarität über Grenzen hinweg:. Wer sich für Klimagerechtigkeit einsetzt, der kann nicht einfach an einer Ländergrenze halt machen. Treibhausgase tun das auch nicht.

Die Fahrt von Berlin zum Klimakemp, wie es auf Tschechisch heißt, war kürzer als die im vergangenen Jahr zur Massenaktion „Ende Gelände!“ im Rheinland. Die Stimmung auf dem Camp war toll, ich traf Menschen aus anderen Städten, die ich lange nicht gesehen hatte, ich bereitete mich mit meiner Bezugsgruppe gut vor auf die Aktion. Wir wollten als Limity jsme mydie Grenzen selbst ziehen – nicht zwischen Ländern, sondern zwischen uns und der Klimazerstörung. Wir wollten die rote Linie sein, die nicht überschritten werden darf, die Grenze, vor der die Bagger stoppen müssen, damit wir eine Zukunft haben können auf diesem Planeten. Ich war bereit, zu rennen, Polizeiketten zu durchfließen, unter Förderbändern hindurchzukriechen und auf einen Kohle-Bagger zu klettern.

Stattdessen liege ich nun hier, in einem Raum, in dem die Polizeidirektion Ústí wohl für gewöhnlich ihre Presse-Konferenzen abhält. An den Wänden hängen verstörende Fotos von Polizei-Übungen mit Maschinengewehren im Wald und von Beamten, die einen Mann zu Boden drücken; sein Kopf liegt in einer Blutlache. Ich bin froh, dass ich nicht von der Polizei geschlagen wurde und auch nicht mitansehen musste, wie andere geschlagen wurden. Wir sollen psychisch weichgeklopft werden, nicht mit physischer Gewalt.

Wir sind rund 30 Aktivist*innen im Raum, bewacht von der Polizei, und immer wieder werden Personen herausgeholt, einzeln, für Verhöre oder um ihre Fingerabdrücke zu nehmen. Manche kommen wieder, andere verschwinden. Wir wissen nicht, was mit den Personen passiert, die nicht mehr hier sind. Wir sollen Angst bekommen. Die Ungewissheit, der Schlafentzug, die Verhöre, das alles soll uns mürbe machen. Und das klappt ziemlich gut.

Wir haben nichts weiter getan, als uns aus einer legalen Demo heraus in Richtung Tagebau zu bewegen, in einem von zwei sogenannten Aktionsfinger, in jedem davon 200 Aktivist*innen. Wir waren der hintere Finger, und wir kamen nur ein paar Schritte in den Tagebau hinein, bevor wir von der Polizei gestoppt wurden. Gekesselt um 10 Uhr morgens, festgehalten, in Busse verladen und hier her in die Gefangenensammelstelle (Gesa) transportiert. Fotografiert, dann durchsucht. Die Frauen mussten sich dafür komplett ausziehen. Ich habe die beiden Polizistinnen angestarrt, fast flehend, habe mit Blicken versucht zu fragen: Muss das wirklich sein? Sie waren unerbittlich. Es geht um Demütigung, wir sollen uns klein und schlecht und eingeschüchtert fühlen. Auch das klappt ziemlich gut.

Das Betreten von Privatgelände wie einem Tagebau ist in Tschechien nur eine Ordnungswidrigkeit. Es gibt keine weiteren Vorwürfe gegen uns. Aber die Polizei will unsere Namen wissen, unsere Adressen. Weil wir das verweigern, sitzen wir noch immer hier drin.

Ziviler Ungehorsam funktioniert dann am besten, wenn er massenhaft geschieht. Soziale Bewegungen wie die unsere, die Bewegung für Klimagerechtigkeit, sind darauf angewiesen, dass sie anschlussfähig sind. Das konkrete erste Ziel, der sofortige Kohleausstieg, ist mehrheitsfähig. Aber nur wenn viele Leute bei unseren Aktionen mitmachen, jedes Jahr mehr, können wir im politischen Diskurs gewinnen. Dann wird Kohle verfeuern irgendwann politisch genauso untragbar wie Atomkraftwerke zu betreiben. Dafür, für diesen massenhaften Zivilen Ungehorsam, nutzen wir das Mittel der Personalienverweigerung: Alle, die wollen, gehen ohne Personalausweis und ohne sonstige Dokumente in die Aktion. Wir setzen darauf, dass die Polizei überfordert ist mit der Menge der Aktivist*innen, die sie festnehmen, und dass sie uns alle unbeschadet wieder gehen lassen. Bei zwei Aktionen in Deutschland war ich schon, bei denen das so funktioniert hat. Jetzt also Tschechien.

Hier kann die Polizei uns 48 Stunden lang festhalten, wenn sie nachweisen kann, dass wir aus dem Ausland kommen. Im Verhör grinse ich manchmal verständnisvoll oder gebe vor, angestrengt zuzuhören, wenn der Polizist und die Polizistin, die mir gegenübersitzen, sich unterhalten. Ich sage kein Wort. Irgendwie gibt mir das ein Gefühl der Überlegenheit: einfach zu schweigen.

Dann sitze ich wieder mit den anderen im Raum mit den schrecklichen Fotos. Das Gruppengefühl, das heute Morgen so stark war, zerbröselt langsam. Heute Nachmittag, als wir hier eingeliefert wurden, haben wir flüsternd in der hintersten Ecke des Raumes gesessen, 30 Leute im Kreis, und haben gemeinsam im Konsens entschieden, dass wir nicht klein beigeben wollen. Dass wir zusammenhalten, alle unsere Identität geheim halten, die Leute aus Tschechien ebenso wie die aus Deutschland, Frankreich, England und woher wir sonst noch so kommen. Das war ein gutes Gefühl. Wenn es dann aber ins Verhör geht, oder zur Erkennungsdienstlichen Behandlung, wo sie deine Fingerabdrücke nehmen und Datenbanken danach durchsuchen, bist du allein.

Einige Menschen aus meiner Bezugsgruppe sind mit mir hier, zum Glück, ich traue mich aber kaum, mit ihnen zu sprechen, weil Polizisten rund um uns herum im Raum stehen und Wache halten. Wir unterhalten uns deshalb nur auf Englisch und nur über Belanglosigkeiten. Irgendwann versuchen alle einfach nur noch zu schlafen.

Ich könnte jetzt gerade auf einem Festival die Nacht durchtanzen. Oder gemütlich in meinem eigenen Bett liegen, morgen früh aufstehen und an einen See fahren. Ich drehe mich von der einen zur anderen Seite, aber der Fußboden ist überall gleich hart. Als ich beschlossen habe, dass mir die Menschen in Bangladesch und anderswo nicht länger egal sind, dass ich es nicht hinnehmen will, dass ihre Böden vom Meersalz unfruchtbar werden und ihr Land überflutet wird, hatte ich keine Ahnung, wie unbequem dieser Kampf für Klimagerechtigkeit werden würde. Ich hatte keine Ahnung, wie lange sich eine Nacht anfühlen kann ohne Schlaf, ohne vernünftiges Essen und ohne die Möglichkeit, beim Auf-die-Toilette-Gehen die Tür schließen zu können.

Aktivismus hat manchmal wenig zu tun mit genialen Strategien oder schnellem Reaktionsvermögen in der Aktion. Aktivismus hat meistens viel zu tun mit Durchhalten, Zusammenhalten, mit Einfach-dabei-bleiben und damit, nicht aufzugeben.

So ist es auch dieses Mal. Irgendwann wird das Durchhalten belohnt: Die Polizei lässt uns mitten in der Nacht noch frei, eine Person nach der anderen darf gehen, einfach so. Vor der Gesa warten Menschen auf uns mit Bier, Bananen und Schokokeksen. Es sind tschechische Aktivist*innen, die ich vorher noch nicht gesehen habe. Wir umarmen uns, als würden wir uns schon ewig kennen. Dann sind plötzlich Kleinbusse da, mit denen wir zurück zum Camp gefahren werden – von Menschen, die schon die ganze Nacht über nichts anderes gemacht haben, die freiwillig wach bleiben, damit wir einen Transport-Service haben. Sie, die mit dem Bier vor der Gesa und die mit der veganen Bolognese, als wir im Morgengrauen auf dem Camp ankommen, sind meine Held*innen der Nacht.

Nach ein paar Stunden Schlaf, als die Sonne schon wieder so hoch steht, dass es im Zelt unmöglich ist, noch weiter zu schlafen, kommen wir unter dem großen Zirkuszelt auf dem Klimakemp zusammen und es gibt Berichte über die Aktion: Eine Gruppe hat den ganzen Tag über den größten Braunkohle-Bagger in ganz Tschechien blockiert. Aus dem Finger, der vor uns in die Grube gegangen ist, haben es 60 Menschen zu einem Bagger und zu Förderbändern geschafft, auch diese wurden blockiert. ČEZ, das tschechische Unternehmen, musste den Betrieb den ganzen Tag über einstellen. Und das Beste ist: Alle Aktivist*innen, die festgenommen wurden, sind wieder frei!

Beim Essen auf dem Camp, das letzte vor der Abfahrt zurück nach Berlin, sitze ich zusammen mit einem tschechischen Freund. Er wirkt übermüdet, aber auch überglücklich. Wir haben gezeigt, dass ziviler Ungehorsam auch hier bei uns funktioniert, sagt er. Was in Deutschland fünf Jahre gedauert hat – vom ersten Klimacamp 2010 bis zur ersten Massenaktion „Ende Gelände!“ 2015 – ist in Tschechien innerhalb von zwei Jahren aus dem Boden geschossen. Als nächstes wollen Aktivist*innen von Limity jsme my nach Polen fahren, wo dieses Jahr erstmals ein Klimacamp stattfindet. Letzte Nacht lag er noch auf dem gleichen Fußboden in der Polizei-Station wie ich, und wahrscheinlich hat er sich genauso einsam gefühlt.

Dabei lagen Hunderte andere Menschen gleichzeitig mit uns auf Fußböden und in Einzelzellen, oder hingen am Telefon, um Anwält*innen zu kontaktieren, oder standen am Herd, um für alle zu kochen. Tausende weitere Menschen haben Artikel, Fotos und Videos von der Aktion gesehen, haben den Kopf geschüttelt oder waren begeistert, haben in jedem Fall angefangen, über Braunkohle nachzudenken und vielleicht auch über Klimagerechtigkeit.

Im Oktober werden wir Tausende sein, die unter dem Motto „Ende Gelände!“ den Tagebau Hambach blockieren, um den Hambacher Forst vor der Abholzung zu schützen, und weitere Tausende werden uns unterstützen, von uns lesen und hören und in Gedanken bei uns sein. Vielleicht werde ich auch dann wieder keine tollen Erfolgserlebnisse haben, die ich erzählen kann, wenn andere von ihrem Festival-Wochenende oder ihrem Tag am See berichten. Aber ich will versuchen, mich nicht mehr einsam zu fühlen: Weil wir viele sind und weil wir immer mehr werden.

Mehr Fotos von der Aktion auf Facebook

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